Freunde fragen

Was können wir als Gesellschaft aus der Corona-Krise mitnehmen?

Eine schöne Frage. Welche Lektionen lassen sich aus einer Zeit ziehen, in der wir alle in Jogginghose in unseren Wohnungen verharren, Dosenerbsen horten und das tägliche Highlight sich auf den Joghurtkauf im Supermarkt beschränkt?

Erst einmal ist wichtig festzuhalten, dass die Corona-Krise nur mittelbar durch das Virus verursacht ist. Nüchtern betrachtet, handelt es sich bei Corona weiterhin um ein Virus, das sich zwar rasend schnell verbreitet, aber für einen Großteil von uns glücklicherweise nicht lebensbedrohlich ist. Ja, man muss sich dabei sogar immer wieder in Erinnerung rufen, dass das überwiegende Teil der Infizierten die Krankheit kaum bemerkt. Die Corona-Krise wird also nicht nur durch das Virus selbst bedingt, sondern liegt in großen Teilen in dem, was sie mit uns als Gesellschaft macht. Da ist beispielsweise die Herausforderung, genügend Kapazitäten für die Behandlung der Patienten mit schweren Verläufen sicherzustellen. Durch die schiere Masse an Infektionen, die in einem Land von 80 Millionen Einwohnern zustande kommen, handelt es sich hier selbst bei geringem Anteil von schweren Verläufen, um eine signifikante Anzahl. Es werden Betten bereitgestellt, die entweder nicht ausreichen, oder am Anfang der Epidemie nicht genutzt werden. Dringende OPs werden verschoben, andere Patienten, mit ebenfalls schweren Erkrankungen, finden möglicherweise nicht die notwendige Unterstützung. Für einige Menschen geht es hier um Leben und Tod.

Für die meisten von uns sind die Auswirkungen weniger dramatisch, für uns ist gesetzt, dass wir auf der Seite des Lebens stehen. Aber auch dies ist kein Freifahrtschein. Abgesehen davon, dass wir alle in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, das Wirtschaftssystem nur noch auf Sparflamme läuft und physische Begegnungen maximal eingeschränkt sind, macht die aktuelle Situation etwas mit uns mental. Unsere Generation ist in einer ständig beschleunigenden Gesellschaft aufgewachsen, in der kein Leerlauf zugelassen wird und die eigene Identität sich im Tun und nicht im Sein begründet. Einfach gesagt: Viele von uns begründen ihre Identität auf dem, was wir gelernt und erreicht haben und dem, was wir aktuell (er-)schaffen. Corona hat unserer Gesellschaft ohne Vorwarnung den Fuß vom Gaspedal geschoben. Das Resultat ist, dass die Möglichkeiten, weiterhin im Tun zu leben, stark eingeschränkt sind. Natürlich können wir uns weiterhin fast zwanghaft durch Handlungen betäuben – und viele tun dies auch. Gefühlt haben 80% meines Freundeskreises bereits alle Fenster der Wohnung geputzt, lernen in Onlineuniversitäten beeindruckend klingende Programmiersprachen oder kochen alle 150 vegane Paleo-Rezepte des Lifestyle-Bloggers ihres Vertrauens. Spannend wird es an dem Punkt, an dem alle Regale abgestaubt, alle ansprechenden Kurse besucht, der Magen voll ist und die erste Ernüchterung eintritt. Dann herrscht Leerlauf. Plötzlich. Oder eigentlich auch nicht. Der der Leerlauf war immer schon da, wir hätten auch so schon in ihn schalten können. Aber das haben wir vermieden. Wer kann es sich schon leisten, in Schrittgeschwindigkeit durchs Leben zu gehen? Wer dies tut, wird von den anderen normalerweise sofort überholt. Doch diesmal ist die Situation eine andere. Diesmal sind alle dazu gezwungen, vom Gaspedal zu gehen.

Auf diese Situation lassen sich 1:1 die Prinzipien der Spieltheorie anwenden: In der Welt vor Corona hatten wir alle stets den Anreiz, auf maximale Beschleunigung zu setzen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Wenn ein einzelner es wagte, sich dem zu widersetzen, geriet er sprichwörtlich unter die Räder. Also preschten wir alle ständig voran und selbst der, der eigentlich eine Pause brauchte, hechelte mit dem Mob. Corona hat es geschafft, die Grundsätze der Leistungsgesellschaft teilweise ad absurdum zu führen. Der Druck ist nun von uns, die wir eben nicht um Leben und Tod fürchten müssen, genommen. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind so stark eingeschränkt und unser Arbeitsleben transformiert, dass wir nicht wie zuvor mit Kollegen um die Beförderung wetteifern oder uns im Abarbeiten von „To Dos“ übertreffen können.

Dies führt für viele von uns natürlich zu Ängsten um die eigene wirtschaftliche Existenz. Gehen wir aber davon aus, dass wir durch die staatlichen Maßnahmen Absicherung finden, bietet sich an dieser Stelle auch eine unerwartete Chance. Wir haben den kollektiven Freifahrtschein, von Tun ins Sein zu kommen und es einmal zu wagen, durchzuatmen und uns selbst wahrzunehmen. Damit gemeint ist nicht, das reflexartige Lesen von Selbsthilferatgebern und das Installieren von Meditationsapps, die uns dann wieder die Zeit mit uns selbst strukturieren. Sondern wirklich und einfach Sein. Auf einem Stuhl sitzen. Atmen. Im Park auf einer Bank sitzen ohne unsere Noise Cancelling Headphones und vollgepackte Spotify-Playlists.

Mir selbst fällt dies auch extrem schwer. Erst neulich fragte ich einen guten Freund, wie er es schaffe, einfach einmal nichts zu machen. Der fatale Fehler in meinem Denken und Handeln erschließt sich wohl jedem, der diese Frage mehr als einmal liest. Das, was er mir auch in einem längeren, sehr guten Gespräch nicht näherbringen konnte, hat mich nun Corona gelehrt. Dadurch, dass mir quasi alles an Möglichkeiten genommen wurde, mich selbst durch ständiges Tun, Machen und Handeln zu betäuben, habe ich diesen Punkt erreicht. Ich muss sagen, dass es sich dort anfangs überhaupt nicht gut anfühlte. Die Vorstellung eines Full Body Waxings, durchgeführt von einer sibirischen Kampfringerin, erschien mir in diesem Moment fast verlockend. Sein wir ehrlich: Es gibt für uns nichts Schwereres, als mit uns alleine zu sein. Einmal, da wir es nicht kennen und mit der Situation nicht umgehen können; zum anderen, weil in diesem Moment bestimmte Stimmen und Gedanken in unserem Inneren ganz laut werden. Was diese genau sind, unterscheidet sich von Person zu Person. Uns allen gemein ist aber sicherlich, dass wir mit den Grundfragen unserer Existenz und uns Selbst konfrontiert werden. Die meisten von uns hatten wohl die Hoffnung, diese ähnlich wie die noch offene Steuererklärung und den Anruf bei unserer verhassten Tante Ursula auf die lange Bank schieben zu können. Ist dies schlimm? Nein, ganz im Gegenteil. Es ist gut, heilsam und für die meisten von uns lange überfällig.

Dies bringt mich wieder zurück zur Ursprungsfrage. Ich wünsche mir, dass wir es uns allen in der aktuellen Situation erlauben, Ruhe zu finden, uns von der ständigen Berieselung durch soziale Medien freizumachen und ein bisschen mehr an uns selbst heranzurücken. Wenn wir dies zulassen und lernen, dann wirken die durch Corona geschaffenen Beschränkungen nicht mehr wie Grenzen auf uns, sondern wie ein temporärer Schutzraum, in dem wir nicht nur sein müssen, sondern auch sein dürfen.

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